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„Man hat sich wieder eingerichtet. Die Italienreise ist noch ein
Wunschtraum, aber der Opel steht bereits vor der
Tür. So war es in den frühen fünfziger Jahren, so ist
es in Jutta Brückners drittem Spielfilm. Sie rekonstruiert darin drei Jahre ihrer Biographie, in der sich
- wie Diskussionen immer wieder zeigen - viele
ihrer Generation wiederfinden. Das hat vor allem
damit zu tun, dass sie nicht nur offen und einfühlsam die Phasen des Erwachsenwerdens ihrer Heldin Ursula (Britta Pohland) beschreibt, sondern
auch die Atmosphäre der fünfziger Jahre in Bildern
und Sprache genau trifft. Sie verwendet, weil diese
Zeit für sie düster und grau war, Schwarzweiß-Material. Die politische Wirklichkeit wird durch eingeblendetes Dokumentarmaterial, etwa vom Aufstand des 17. Juni, oder durch Radiomeldungen wieder lebendig. Ein Film über die Adenauer-Ära, in
der wirtschaftlicher Aufschwung alles bedeutete,
aber auch, wie Jutta Brückner sagt, ‚die subjektive
Trauerarbeit einer Tochter’. Ursula wird durch die
Erziehungsmethoden ihrer Mutter, die selber in
einer Atmosphäre der Unterdrückung aufgewachsen
ist, in eine Haltung getrieben, die sich aus Hemmungen, Muffigkeit und Auflehnung zusammensetzt. Sie
sieht schließlich keinen Ausweg mehr und greift zu
Tabletten. Resignation? Am Schluss verbrennt langsam ein Photo mit dem Bild des Mädchens, Aber, so sagt die Regisseurin, nicht die Person wird zerstört, sondern ‚das Bild ihrer selbst, das sie in sich
trägt’. Denn: ‚Wer etwas ausrichten will, muss
zuerst etwas hinrichten, sich selbst.’”
Anne Frederiksen
„Jutta Brückners Zugriff auf den Stoff ist - so sehr sie ihn auch durch atmosphärische Details zu vergegenwärtigen sucht - polemisch, eingreifend-kommentierend. Während der Film einerseits ganz aus der verdrängten, unterdrückten, gehemmten Körperlichkeit des Mädchens erzählt wird (und alle Realien der Zeit, der Personen und der sie belastenden Vorgeschichte der Nazi-Ära wie zu einem Strahlenbündel konzentriert erscheinen, gerichtet einzig auf das in seiner sinnlichen und geistigen Entfaltung unterdrückte Mädchen), zitiert Jutta Brückner Dokumentarmaterial vom Aufstand des 17. Juni und vom KPD-Verbot und verwendet die dokumentarischen Partien zur polemischen Kontrafaktur ihrer Erzählung, die dadurch zusätzlich eine kontroverse Spannung erhält und die Worte der Politiker und ideologischen Kommentatoren durch die Bilder Lügen straft. Lügen, Verdrängungen, Prüderie, Anpassung, Restauration und Wirtschaftswunder: an dieser stickigen, verschwiemelten Mesalliance geht Jutta Brückners Heldin zugrunde. Der Film hat viele Schwächen und missglückte Gewagtheiten: innere Monologe, mangelnde Einlässlichkeit auf die Personen, die oft nur karikaturistisch angeschnitten werden, und viele Dialoge, die bloß informatorische Funktion besitzen. Dennoch steckt in ihm eine widerborstige Kraft der Erzählung, eine solche Identifikation mit der Heldin und Triftigkeit bei der Beschreibung physisch-psychischer Erniedrigung, dass er vom Publikum wie kein anderer bisher als seine Sache angenommen wurde.”
Wolfram Schütte
„Was diesen Schwarzweißfilm von anderen ähnlichen halbdokumentarischen Arbeiten unterscheidet, ist der stilistische Einfallsreichtum. Die Vorbilder sind zu erkennen: Alexander Kluge, was das oft jäh abbrechende gescheite Bilderpuzzle betrifft, und Rainer-Werner Fassbinder, in der oft komplizierten Übereinanderlagerung verschiedener Sprachelemente. Jedoch eine Filmfigur wie diese Ursula so mit Leben zu erfüllen, dass sie zu erschüttern vermag, das ist für eine junge Regisseurin ganz und gar ungewöhnlich.”
Brigitte Jeremias
„Der Film von Jutta Brückner ist sehr intelligent, bemerkenswert gefilmt und mit sehr viel Humor und Sensibilität inszeniert. Man findet in ‚Hungerjahre’ keine jener ideologischen Gewaltsamkeiten, die in dem Film von Agnès Varda ’L'une chante, l'autre pas’ den Teil, der sich mit heute beschäftigt, so peinlich machen. Alles scheint nicht nur richtig zu sein, sondern jede Szene und jede Person ist auch sehr genau ausgearbeitet. Alle Personen sind interessant und ohne Klischee, die Großmutter, die Mutter, eine versteinerte Frau und der eher resignierte Vater, der auf ein Engagement in der kommunistischen Partei vor dem Krieg zurückblickt. Der Film ist wie ein Abfolge von brennpunktartigen Momenten konstruiert, deren einzelne Bedeutung als solche eher dunkel bleibt und deren Sinn sich erst aus der Verknüpfung ergibt, bis zum Selbstmordversuch der Erzählerin, mit dem der Film schließt. Jutta Brückner scheint im Sinn gehabt zu haben, jeden Punkt, jede Verwandlung, jedes Stadium ihrer Jugend zu rekonstruieren und man folgt jedem einzelnen Augenblick. Jede der Einstellungen zeigt nicht so sehr den Gesichtspunkt, sondern den Blick des jungen Mädchens auf ihre Umgebung und den kalten oder eher lauwarmen Schrecken jener Jahre. Selten hat eine Kamera so gut jene Art von gefrorenem Ersticken und kalter Revolte, beide unerträglich, gezeigt, eine Jugend, die durch unsichtbare Bande gebunden ist, die unverständlichen Gesetze einer kleinbürgerlichen Familie und das leere Leben um sie herum...”
Cahiers du Cinema, Mai 1960
„Blitze, die Erinnerungslandschaften erhellen. Der Film hat tatsächlich etwas mit Tag und Nacht zu tun. Jutta Brückner inszeniert ungewohnte Ausschnitte, sie hat eine eigene Art, ihre Erinnerungsbilder zu konstruieren; sie geht nirgends naturalistisch vor, weder im harten realistischen Detail, noch im Ablauf der Ereignisse, und sie bricht den Handlungsverlauf immer wieder auf mit inneren Monologen und mit den Bildern der von Ursula erträumten Gegenwelt. Diese Bilder haben ebenfalls etwas Blitzartiges an sich, sind optische Formulierungen von Gedankenblitzen. Die Zeitstimmung, die alltägliche Atmosphäre ist selten so eindringlich, so richtig auf der Leinwand zu sehen gewesen - und dies bei einer starken Stilisierung. Jutta Brückner spricht in diesem Zusammenhang davon, dass sie ‚Filme authentisch machen’ will statt authentische Filme zu drehen. Authentizität hat vor allem mit Übereinstimmung zu tun, mit der Verbindlichkeit des Dargestellten, hier zum Beispiel mit der Erkennbarkeit der Vergangenheit als einer kollektiven.”
Verena Zimmermann
„So banal die Geschichte, so gewaltig fährt sie ein.
Übrigens nicht nur den Frauen, sondern auch den Männern; und nicht nur in Deutschland, sondern auch in Ägypten, in Algerien, in Zürich. Jutta Brückner war fassungslos, als Ägypterinnen weinten im Kino, gerade so, als hätten sie sich in ihrer banalen Geschichte wiedererkannt. Aber im Grund ist es wohl einfach. Die Bilder und Szenen, die sie vorlegt, gleichen ihrem tiefsten Bedeutungsinhalt nach gewissen Szenen, die wir selber erlebt haben, und daher können wir sie wieder erkennen, auch wenn es damals bei uns äußerlich ganz anders abgelaufen ist. So ‚fiktiv’ das Medium Film sein kann, so enthüllend kann es werden, wenn es in dieser Absicht verwendet wird. Was wird bloßgelegt? Das, wofür die Frauen sich schämen. Unsere Scham. Dass die ‚Liebe’, in deren Namen wir dienen, Opfer bringen, uns selbst verleugnen, Konzessionen machen und die Erfüllung unseres Lebens suchen, sich über kurz oder lang als Lebenslüge herausstellt. Dass das normale, alltägliche Verhältnis zwischen Mann und Frau im Grunde gar kein Liebesverhältnis ist. So wenig wie das Mutter-Kind-Verhältnis. Aber: das darf ja nicht wahr sein. Also muss darüber geschwiegen werden. Scham ist ein Geschlechtsmerkmal der Frauen.”
Vilma Hinn
„Diese Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung aus dem Bundesdeutschland der
Fünfziger Jahre meint nicht nur den
Einzelfall. Sie steht stellvertretend für die
große Zahl von Fehlentwicklungen innerhalb
einer Generation, die ‚in einem reichem
Land’ (so der Untertitel des Films) an
seelischem und gesellschaftlichem Hunger
leiden muss. Dass er sich nicht scheut, die
politischen Hintergründe dieser Situation
auszusprechen, ist ein besonderer Vorzug des
Films, der nicht zuletzt durch seine
Ehrlichkeit und die Präzision seiner
Beobachtungen überzeugt.”
aus der Begründung der Jury der evangelischen Filmarbeit für den „Film des Monats”, Juni 1980
„Sehr eindrucksvoll und schmerzhaft genau
zeigt Jutta Brückner das Maß und die Methode
der Einschüchterung durch die Beschreibung
der ‚kleinen Frauengeheimnisse’, die die Entfremdung vom eigenen Körper zum Ziel haben,
die so schwer wieder abzuschütteln ist: Ursel
wird eingebläut, den eigenen Gefühlen zu misstrauen, sie darf mit Jungen vom Zeitpunkt ihrer
ersten Menstruation an nicht mehr spielen, ihren
eigenen Körper nicht betasten und den ihrer
Mutter nicht sehen. Fast wie zur Beschwörung der Unschuld ihrer
Tochter lässt die Regisseurin die Mutter immer
wieder Wäsche waschen, Sauberkeit wird zum
Synonym für ihre Körper-, letztlich für ihre Lebensfeindlichkeit. Kälte und Versteinerung wird
eher ertragen als Unruhe und Unordnung. Der
Vater liebt eine andere, aber solange er zu Hause
bleibt und den Schein wahrt, ist es nicht wirklich wahr, ist alles in Ordnung.
In dicht aufeinander folgenden Situationen
wird eindringlich beschrieben, wie Ursel die
Flügel gestutzt werden, bevor sie richtig begriffen hat, dass sie welche hat; die Dressur wird im
Detail entlarvt, im privaten Niemandsland, wo
- weitab von jeder Öffentlichkeit - die Mütter
ihren Töchtern beibringen, den eigenen Körper
zu hassen und den Ehemann machen zu lassen.
Manchmal stellt sich Ursel ihre Mutter vor, wie
sie nackt und reglos auf der Erde liegt, am Ende
ist sie es selbst, die diese Haltung einnimmt, als
wolle sie sich tot stellen. Eine Verständigung
zwischen Mutter und Tochter ist nicht möglich,
viel zu irrational sind die Ängste der Mutter, als
dass sie sie benennen könnte, und in kurzen prägnanten Szenen mit Großmutter und Tante wird
deutlich, dass sie in ihrer emotionalen Selbstverstümmelung auch nur wieder Opfer einer langen
Tradition ist.
Der stilisierten Fiktion traut Jutta Brückner
nur bedingt, und immer wieder weicht sie ab von
jeder glatten Spielfilmdramaturgie, verweilt bei
ihren Personen, als seien sie dokumentarisch befragte Zeugen der Zeit. Jedem aufwendigen Kostümfilm ist sie mit dieser Technik überlegen
und fast spielerisch, humorvoll und schmerzlich
zugleich lehrt sie einen den genaueren Blick auf
die eigene Vergangenheit.”
Doris Dörrie
„Da war der neue Film von Jutta
Brückner ‚Hungerjahre - in einem reichen Land’, die Rückerinnerung der jetzt 35-jährigen an ihre
Pubertät in den Fünfziger Jahren. 0
Gott, furchtbar und richtig die Ordentlichkeit und Dürftigkeit, die Tanzstundenstarre, die Heimlichkeiten. Das
erste Menstruationsblut in der Hose
und, indem dieser peinliche Camelia-Gürtel befestigt wird, der Hinweis, ab
nun dürfe man aber keine ‚Jungen’
mehr ‚dran’ lassen (als ob wir das
getan hätten...). Und daneben die
unordentliche Innenwelt, in der die
Träume versuchen, einen Platz zu
behalten. Die Heldin bei Jutta Brückner (gespielt von Britta Pohland),
schafft sich ein Ventil: sie frisst; Kuchen, fette Würste, lutscht Sahnetuben aus und versteckt diese Lust in
ihrem verkrampften Körper mit den
hochgezogenen Schultern, verschlossener mit jedem Tag, mit dem sie die
Verbote, unklaren Warnungen und die
Einsamkeit mit sich selbst ausmachen
muss. Die Regisseurin sagt: ‚Man redet viel
vom Hunger, und das ist auch richtig. Von dieser Art von seelischem Hunger redet man meistens nur
in den allerprivatesten Tönen, so als sei
das eine persönliche Charakterschwäche,
diese Art von Unangepasstsein. Es geht
hier darum, festzustellen, dass diese Sachen auch ein gesellschaftlicher Hunger
sind und als ein solcher verstanden werden müssen.’ Wie genau Jutta Brückner
in ihrer ‚subjektiven Trauerarbeit einer
Tochter’ erinnert, zeigen winzige Augenblicke in dem Film, wenn die Mutter
z.B. laut träumt, die Tochter würde
später Studienrätin und sie, die Mutter,
werde ihr dann den Haushalt führen.
Da ist eine Vision herausgerutscht, für
die sich die Mutter - ‚ich meine, falls
Vater dann nicht mehr ist...’ sogleich
selbst zur Ordnung ruft. Die Sexualität
als das ausgegrenzte Bedrohliche, das als Botschaft eben genauso ankam wie das eigene Bedürfnis, sie endlich kennen zu lernen, mit Lust. Der Film löst dadurch, dass er bislang nicht Besprochenes, aber von so vielen von uns eben so Erlebtes zeigt, eine große Erleichterung aus: es lässt sich sagen, sich zeigen, ganz genau. Leise und undramatisch lösen sich im Zuschauen Verkrampfungen aus der Unklarheit. Ein Film, der selbsttherapeutisch sein wollte und dies ganz sicher auch für viele Zuschauerinnen wird.”
Sabine Zurmühl